zum Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres 2022.

Ich lade Sie ein, an eine Reise zu denken. Sie kann lange her sein oder erst ganz frisch, das spielt keine große Rolle: Vielleicht denken Sie an die Vorfreude, an das Packen, an das Planen, an den Moment des Aufbruchs, an die Schritte aus Ihrer Wohnung, an den Geruch, an die Geräusche: Kofferrollen, Haustüren, Autotüren, Windspiele, die im Garten klingen, ein letzter Blick zurück, Einstieg ins Auto, der Abreiseort wird kleiner, los geht’s!

Sind Reisen nicht etwas Sonderbares? Anstrengend und aufregend, einschüchternd und befreiend, riskant, ja; aber eben auch hoffnungsvoll.

Heute ist es für mich nicht anders, als es in meiner Kindheit war. Wir fahren etwa zweimal im Jahr nach Deggendorf in Niederbayern zu meiner Verwandtschaft. Diese Fahrten vorzubereiten war anstrengend; dies aber weniger für mich, ich war ja Kind, als für meine Eltern. Doch ich denke immer noch an die Gefühle, die ich damals hatte und wie sich Zeit für mich anfühlte.

Die Anreise zog sich immer wie Kaugummi, gerade für mich als Kind, passiv auf dem Rücksitz zu sitzen, aus dem Fenster zu schauen, das war langweilig. Und obwohl meine Eltern alles versuchten, die Reise angenehmer zu gestalten, es dauerte genauso zu lange wie die Wartezeit in den Wochen zuvor.

Doch auf der Rückreise, die doch so viel schneller kam, als mir lieb war, war es ganz anders:\
letzte Absprachen,
Umarmungen,
gute Wünsche,
– mein Opa hat mir oft noch 5 Mark zugesteckt, –
Winken,
mehr Winken,
und wir fuhren um die Kurve und waren auf dem Heimweg.

Und Ruck-Zuck bin ich eingeschlafen und wir waren zu Hause.

Vielleicht ging und geht es Ihnen heut noch genauso: Unsere Wahrnehmung der Zeit ist seltsam, sie wandelt sich, von Ereignis zu Ereignis, von Lebensphase zu Lebensphase: Als Kind schien mir die Zeit kaum zu vergehen und heute habe ich oft den Eindruck, sie zerränne mir zwischen den Fingern und ich jage ihr nur noch nach.

I. Gefangen in der Zeit

Wir Menschen sind Gefangene der Zeit. Ja wirklich! Von der Geburt bis zum Tod haben wir ein mehr oder weniger festes Kontingent geliehen und das leben wir nun ab. Kindheit, Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Studium, Arbeit, viel Arbeit, vierzig Jahre Arbeit; dann Ruhestand und dann?

Das muß ja nichts Schlechtes sein. Das Leben ist ja nicht nur Arbeiten und Sterben. Wir haben viele Erinnerungen an Ereignisse unserer Vergangenheit, die wir kaum aussprechen oder beschreiben können, die uns aber bis heute prägen. Ich denke an meine Freunde, an all Blödsinn, den wir damals gemacht haben, natürlich auch an die Streite, aber auch an die Versöhnungen. Ich denke an meinen ersten Schultag, an meine ersten Schultage in den weiterführenden Schulen, an den Stolz. Ich denke an meine erste Freundin, an die Zeit, da ich meine jetzige Frau kennengelernt habe, an unsere Hochzeit. Vielleicht denken Sie an Ihre Kinder, an die Geburt Ihrer Enkelkinder, an den Bezug des selbst gebauten Hauses, an Ihre Haustiere.

Dies alles sind Kern-Erinnerungen, Erinnerungen, die im Kern unserer Seele liegen und die, hintereinander gelegt, wie ein Film, unsere Biographie ergeben, unser Leben.

Der Vergleich mit einem „Film“ ist tatsächlich aber ganz zutreffend, denn so funktioniert das menschliche Leben. Es ist wie ein Film, der immer weiter läuft, ohne Pause-Knopf, ohne Zurückspulen, ohne Untertitel und mit zunächst offenem Ende.

II. Die Zeit ist endlich – für uns

Die Zeit läuft für uns nur in eine Richtung, nämlich vorwärts. Wir können mit keiner Technik die Zeit umkehren, wir können nichts rückgängig machen, was wir getan oder gesagt haben, wir leben von Tag zu Tag, von Erinnerung zu Erinnerung, von Kapitel zu Kapitel.

Und dabei ist unser Leben zerbrechlich, das haben wir in den letzten Jahren nochmal ganz deutlich spüren müssen. Irgendwann beginnt der Abspann und es hört auf. Das trifft auf mich zu wie auf Sie, das trifft auf alle Menschen zu, auf die Tiere, auf diesen Planeten und schließlich auf dieses ganze Universum.

Wenn der Zeitstrahl nur in eine Richtung weißt, dann hat alles ein Ende. Irgendwann wird nichts mehr sein, dann sind die Gräber unserer Eltern verschwunden, die unserer Kinder und Kindeskinder, dann sind Länder gefallen und neue entstanden, ganze Kontinente haben sich verändert, sind untergegangen oder auseinandergebrochen; und auch die Sonne ist erkaltet und hat diese Erde sterilisiert und hinterläßt einen kalten Steinbrocken, der scheinbar ziellos durchs All irrt.

Wir haben keine Möglichkeit, dem zu entkommen, wir haben keine Möglichkeit, das zu verhindern. Wir können es nicht einmal restlos verstehen oder gar vorhersagen.

III. Gott ist außerhalb der Zeit

Gott aber sprengt diese Dimension, er ist nicht Zuschauer des Films, der mein Leben ist. Er ist der Regisseur, er kann auf Pause drücken, er kann den Film anders schneiden, er kann auch einen völlig anderen Film einlegen.

Gott ist außerhalb der Zeit. Unsere Zeit ist endlich, wie eben ein Film. Gottes Zeit ist keine Zeit, er ist unendlich, denn er ist ewig. In ihm und durch ihn und mit ihm ist alles schon da! Das Reich Gottes ist mitten unter uns! Wenn wir Abendmahl feiern und Gott spüren. Wenn wir an unsere Kindheit denken, an die glücklichen Momente, an all unsere Kernerinnerungen, die uns ausmachen, die uns prägen: das Reich Gottes ist mitten unter uns.

Unser Leben wird enden. Dieses Universum wird enden. Himmel und Erde werden vergehen. Aber das Reich Gottes ist mitten unter uns. Es muss nicht erst kommen, das ist linear gedacht, menschlich gedacht, eindimensional.

Aber der Regisseur dieser Welt hält die Welt in seinen Händen. Er muß nicht erst kommen, er ist bereits da.

Conclusio.

Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse.

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

Angelus Silesius, in: Der Cherubinische Wandersmann

Tatsächlich und eigentlich leben wir nicht in begrenzter Zeit, wir haben bereits Anteil an der Ewigkeit. Im Angesicht der Welt und ihres Leides kann ich emotional und spirituell verzweifeln und zugrunde gehen, ich könnte meinen, Tod und Teufel hätten gesiegt und wir wären der Endlichkeit preisgegeben.

In Jesus Christus, seinem Tod und Sterben und in seiner Auferstehung hat Gott uns den Weg gezeigt. All dies hier ist eben nicht das Ende, denn dieses Grab vor knapp zweitausend Jahren ist leer gewesen! Jesus war tot. Und doch war das Grab leer!

Er hat den Tod besiegt, er hat die Endlichkeit besiegt und die Ewigkeit für uns erkauft.

All dies hier ist in einem völlig unaussprechbaren und unverständlichen Sinne vorläufig. Und das Reich Gottes blitzt hindurch, und ist einfach da.

So wie es schon immer da ist. So wie es nicht erst kommen muß.

Ich selbst bin Ewigkeit, wenn ich die Zeit verlasse
Und mich in Gott und Gott in mich zusammenfasse

Zeit ist wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit,
So du nur selber nicht machst einen Unterscheid.

Amen.

Alexander
Dozent in der Erwachsenenbildung ~ Referent ~ Theologe

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