I. Incipit
Was ist der Mensch?
Er ist Gottes Ebenbild.
Erschaffer und Macher.
Herrscher und Sklave.
Vater und Mutter.
Sohn und Tochter.
Der Mensch lebt
in Beziehungen.
Wir alle leben in Beziehungen,
in guten,
in schlechten.
Und wir wollen gesehen werden.
Was ist der Mensch?
Was ist sein Wert?
Was muss ich leisten, daß ich wertvoll bin?
Reicht es?
Tue ich genug?
Werde ich wertgeschätzt?
Oder ist es wie bei Kain und Abel?
Neid.
Mißgunst.
Wie ein großer Bruder gegenüber dem kleinen?
Oder umgekehrt?
Weil er das bessere Spielzeug hat?
Die coolere Armbanduhr?
Das schnellere Auto?
Die hübschere Freundin?
Was bin ich wert?
Werde ich gesehen?
Lesung: Gen 4, 1–16a
II. Vertikaler Sündenfall: Der göttliche Konflikt
Was ist der Mensch?
Ebenbild Gottes.
Was ist das für ein Ebenbild?
Einer erschlägt den anderen?
Wegen einem schiefen Blick?
Was ist das für ein Gott?
Dessen Ebenbild der Mensch ist?
War nicht eigentlich alles gut?
Im Paradies?
Einheit
Ruhe.
Weite Wiesen.
Sonnendurchflutet.
Mit Geruch nach frischem Gras.
Vögel.
Bäume.
Aber er sah so lecker aus.
Die Versuchung war zu groß.
Die Frucht war zu süß.
Die Schlange war zu überzeugend.
Es war so leicht.
Doch die Strafe kam gleich.
Warum habt ihr das getan?
Seither Mühsal.
Bei der Arbeit.
Bei der Geburt.
Auf der Flucht,
von Gott zu Gott.
Alles ist anstrengend,
genau deshalb.
III. Horizontaler Sündenfall: Der brüderliche Konflikt
Zwei Brüder.
Rivalität ist ganz normal,
sagen sie.
Jungs müssen sich zoffen,
sagen sie.
Aber mit einem Stein erschlagen?
Dabei war’s doch nur eine Opfergabe.
Ein schiefer Blick.
Nur.
Aber das sagt sich leicht.
Hat nicht jeder der Brüder hart gearbeitet?
Im Schweiße seines Angesichts?
Der eine als Viehhirte.
Der andere als Ackerbauer.
War nicht die Arbeit gleich viel wert?
Gleich anstrengend?
Gleich auszehrend?
Warum hat Gott hier einen Unterschied gemacht?
Mit seinem schiefen Blick?
Der nur den Abel beachtet hat?
Kain war gedemütigt.
Wie eben ein Bruder.
Wie ein Rivale.
Ein Stich in’s Herz.
Denn Kain hat sich angestrengt!
Er hat sich wirklich angestrengt!
Tagtäglich ist er auf’s Feld gegangen.
Hat Unkraut gejähtet.
Unter der heißen Sonne.
Im Schweiße seines Angesichts
hat er die Pflanzen gehegt.
Und gepflegt.
Abel hingegen,
der hatte es vergleichsweise leicht.
Der musste mit seinem Vieh nur umherwandern.
Und während es aß
konnte er liegen.
Es geht um Neid.
Neid zwischen zwei Brüdern,
weil er das bessere Spielzeug hat.
Die coolere Armbanduhr.
Das schnellere Auto.
Die hübschere Freundin.
Die bessere Arbeit.
Das schönere Geschenk.
IV. Kains Strafe
Was ist der Mensch?
Ein Mörder und Heuchler.
Sohn und Tochter.
Vater und Mutter.
Sklave.
Herrscher.
Macher und Erschaffer.
Ein Ebenbild Gottes.
Weit weg von Gott.
Auf sich gestellt.
Vertrieben.
Aus dem Paradies.
Von den schönen Wiesen.
Aus dem Frieden.
Aus dem sanften Wind.
Aus dem Geruch von Gras.
Weg von den Bäumen.
Weg von der Frucht.
Ewiger Feind der Schlange.
Ewiger Feind mit sich selbst.
Was ist der Mensch?
Von Gott getrennt.
Von den Menschen getrennt.
Wegen des Neides.
Wegen der Mißgunst.
Weil der andere besser ist.
Attraktiver.
Reicher.
Schlauer.
Rivalität ist ganz normal,
sagen sie.
Menschen müssen sich streiten,
sagen sie.
Aber sich gegenseitig erschlagen?
V. Conclusio
Ich glaube nicht,
daß es dabei bleiben muß.
Wir bauen Häuser, Städte,
Staaten.
Wir schaffen Grenzen,
unterscheiden,
nach dem Aussehen,
nach der Religion,
nach der Herkunft,
nach dem Geldbeutel.
Weil wir neidisch sind.
Weil wir rastlos sind.
Weil wir im Schweiße unseres Angesichts arbeiten müssen.
Weil wir auf der Flucht sind.
So wie Kain.
Was ist der Mensch?
Er ist schlau.
Denn er kann lernen.
Daß Gott einen anderen Plan hatte.
Daß Gott uns vertraut hat.
Daß Gott viel auf uns gesetzt hat.
So wie die Eltern auf ihre Kinder.
Wie ein Meister in seinen Schüler.
Wie eine Mutter in ihre Tochter.
Gott hat gedacht,
wir würden es begreifen:
Es ging niemals um den Baum.
Es ging niemals um die Frucht.
Es geht um Entscheidung.
Wenn die Schlange vor dir steht
und dir den Himmel auf Erden verspricht,
dir sagt, daß du besser sein wirst,
daß du frei sein wirst?
Was würdest du tun?
Darum ging es nie.
Es zählt nur Gottes Gegenwart.
Der Wind im Haar.
Der Duft frischen Grases in der Nase.
Das Vogelzwitschern in der Luft.
Dann kann ich auch gönnen.
Und muß nicht im Neid bleiben.
Dann kann ich sagen,
es ist gut,
daß er das bessere Spielzeug hat.
Die coolere Armbanduhr.
Das schnellere Auto.
Die hübschere Freundin.
Die bessere Arbeit.
Das schönere Geschenk.
Dann kann ich mich freuen.
Daß er’s gut hat.
Und wenn’s ihm schlecht geht,
kann ich ihm helfen
anstatt ihn zu erschlagen.
Ich kann seine Wunden pflegen,
seine Kleider waschen,
ihm zu Essen geben seine Obdach bezahlen.
Dann kann ich
vielleicht
trotz aller Feindschaft
für ihn da sein.
Obwohl wir Vertriebene sind.
Vertrieben von unserer Sünde.
Aus dem Paradies.
Von den schönen Wiesen.
Aus dem Frieden.
Aus dem sanften Wind.
Aus dem Geruch von Gras.
Weg von den Bäumen.
Weg von der Frucht.
Ewiger Feind der Schlange.
Ewiger Feind mit uns selbst.
Dann bin ich Mensch.
Gottes Ebenbild.
Erschaffer und Macher.
Herrscher.
Kein Sklave mehr.
Vater und Mutter.
Sohn und Tochter.
Und lebe in der Beziehung.
In der Beziehung zu Gott.
In der Beziehung zu meinen Mitmenschen.
In der Beziehung zu mir.
Dann kann es wieder sein:
Das Paradies.
Die schönen Wiesen.
Der Frieden.
Der sanfte Wind.
Der Geruch von Gras.
Die Bäume.
Die Frucht.
Ohne jede Feindschaft.
Weil Nähe und Ferne aufgehoben sind.
Weil ich dann am Ursprung bin.
Des Menschen Weg hat mich von Gott geführt.
Und führt mich doch zu ihm.
Denn er ist gnädig mit mir.
Amen.
Sehr schön geschrieben 🙂