Liebe Gemeinde,
Wittenberg, 1517, Martin Luther hatte von Johannes Tetzel gehört, der in Magdeburg wie ein Marktschreier seine Ablassbriefe zum Kauf angeboten hatte:
Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt.
Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!
Wenn ihr mir euer Geld gebt, dann werden eure toten Verwandten auch nicht mehr in der Hölle schmoren, sondern in den Himmel kommen.
Daraufhin soll Luther angeblich am 31. Oktober 1517 seine 95 Thesen an die Schlosstür zu Wittenberg genagelt haben. Egal, ob das nun historisch ist oder nicht – wahrscheinlich ist es das nicht – hat die Veröffentlichung der 95 Thesen die Reformation zumindest in Gang gesetzt.
Eigentlich als Diskussionsanstoß gedacht hatte Luther zunächst nur die damalige Praxis der Ablassbriefe infrage stellen und diskutieren wollen. Dazu hat er seine Thesen dem Bischof von Magdeburg, Albrecht von Brandenburg, zukommen lassen. Nachdem dieser keine Antwort gegeben hat, hat er seine Thesen an Bekannte weitergegeben. Von denen wurden die Thesen dann veröffentlicht und zum Auslöser einer reichsweiten Diskussion über den Ablasshandel.
Sie kennen die Geschichte, es blieb nicht bei der Diskussion; es kam zu erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Luther und der damaligen römischen Kirche und den weltlichen Herrschern, er wurde zum Widerruf seiner Thesen aufgefordert, „hier stehe ich und kann nicht anders“, mit der Reichsacht belegt, schließlich scheinbar entführt und auf der Wartburg versteckt, wo er dann die Bibel ins Deutsche übersetzte. Zwar nicht das erste Mal, aber das erste Mal in verständlichem Deutsch, denn „man muss dem Volk aufs Maul schauen.“
Aber all das ist Geschichte; geblieben ist nur die Wirkung dieser Ereignisse: die westliche, lateinische Kirche hat sich gespalten. Die alte römische Kirche auf der einen Seite, auf der anderen Seite die reformatorischen Kirchen, lutherische und reformierte.
Geblieben ist auch je eine eigene Theologie von Sünde, Buße und Vergebung, von Schuld, Erlösung und Freiheit. Um dem etwas näher zu kommen, was Luthers Theologie war und wie die lutherischen Kirchen heute den christlichen Glauben leben, will ich auf vier Punkte eingehen:
- Wir sind zu gleich Sünder (peccatores) und trotzdem Gerechte (Iusti), weil wir
- allein durch den Glauben, dass uns
- allein Christus
- allein durch die Gnade erlöst, frei werden.
II. Vere Peccator sum
Sünde ist ein großes Wort und viele haben so ihre Schwierigkeiten damit. Denn das Wort wird für alles Mögliche missbraucht, was damit aber eigentlich nichts zu tun hat.
Sünde ist nicht der große Eisbecher vor dem Fernseher,
Sünde ist nicht das Falschparken auf dem Behindertenparkplatz,
Sünde ist nicht das Vergessen des Hochzeitstages,
Sünde ist nicht der Seitensprung.
Sünde ist etwas völlig anderes.
Das Wort „Sünde“ kommt von germanisch „sund“ was mit dem altnordischen „sundr“ zusammenhängt, was „trennen, aufteilen, (ab)sondern“ bedeutet.
Wie kam die Sünde in die Welt? Ich stelle mir das gern so vor:
Anfang des Universums, der Welt, Adam und Eva. Die beiden leben mit dem HERRN zusammen im Garten Eden in friedlicher Einheit. Gott stellt einige Regeln auf, die Menschen vertrauen und glauben und halten sich daran. Auftritt der Schlange, die Eva zum Essen der Frucht vom Baum der Erkenntnis verführt, die wiederum den Adam verführt. Es kommt zum Sündenfall; die Menschen werden darauf hin aus dem Garten vertrieben, von Gott getrennt, abgesondert und leben in der Sünde, die sie in ihr Leben gelassen haben.
Ab da zieht es sich wie ein Roter Faden durch die Weltgeschichte: Kain und Abel, Neid, Missgunst, Mord und Totschlag, Lügen und Intrigen, Hass und Vergeltung, Misstrauen und Gottlosigkeit. Das nennen Theologen die Erbsünde, die Ursünde; ich nenne es „den Anfang vom Ende.“
„Sünde“ ist also keine Handlung, „Sünde“ ist ein Zustand. „Sünde“ kann ich nicht tun, „Sünde“ bin ich. Sünde meint nicht einzelne Taten, so als gäbe es einen Katalog mit verschiedenen Sünden und darauf folgenden Strafen. Wie eine Liste, was verboten ist oder nicht.
Wobei; das gibt es schon. Die zehn Gebote zum Beispiel oder das Buch Leviticus der Bibel.
Sünde im evangelischen Sinn meint den Zustand, da wir von Gott getrennt sind, in einer von Gott verschiedenen, abgetrennten, abgesonderten Welt leben.
Denn diese Welt ist erst einmal gottlos.
Kriege, Mord und Toschlag, Hass und Angst, Verfolgung und Vertreibung, Krankheit und Tod; all das ist Folge und Wirkung der einen Sünde im Paradies.
Doch da gibt es diese Menschen, die von sich meinen und sagen, dass sie ohne Sünde sind. Dass sie ein reines Leben leben.
Vielleicht auch einige unter Ihnen; auch ich selbst könnte mich über die Aussage, ich sei ein Sünder, empören. Und ich habe auch schon Empörung gespürt, wenn ich das so geäußert habe. Diese Menschen stellen sich dann hin und sagen: „Ich bin ein guter Mensch, ich habe Familie und Arbeit, zahle meine Steuern, begehe keine Verbrechen“ – und weiter gedacht: „ich bin gerecht.“
Die Denkweise der Pharisäer schlägt auch hier wieder durch: „Wer sich an die Regeln hält, der ist gerecht vor Gott.“
Doch stimmt das wirklich? Ist das alles, worum es geht? Wenn ich ehrlich auf mein Leben schaue, ganz ganz ehrlich, dann ist es oberflächlich vielleicht ganz passabel, ich bin ja schon ein ganz guter Mensch; aber in der Tiefe sieht’s anders aus. Wie oft bin ich wütend geworden wegen Kleinigkeiten? Wie oft habe ich jemanden nicht unterstützt, weil ich zu sehr mit mir selbst beschäftigt bin? Wie oft habe ich jemanden absichtlich unabsichtlich ins offene Messer laufen lassen? Schauen Sie mal all ihre Beziehungen an. Kinder, Enkel, Freunde, Bekannte. Können Sie wirklich sagen, dass Sie immer alles richtig gemacht haben, selbstlos, ohne jeden Hintergedanken?
Also ich kann das von mir nicht behaupten.
Sehen Sie? Es geht nicht darum was ich genau getan habe, was wir genau getan haben. Es geht einzig und allein um das Prinzip. Der Mensch zieht die Sünde an, er lebt in der Sünde. Es geht gar nicht anders. Denn dieses Universum ist getrennt von Gott und sich selbst überlassen. Es ist anstrengend, schmerzhaft und bringt den ewigen Tod.
Eben weil. Wegen der Sünde.
Alles ist Sünde. Alle sind Sünder. Ewiger Tod. Ewige Strafe für all das hier. Ganz schön frustrierend.
Da will ich jetzt aber nicht stehen bleiben, denn das wäre mir zu depressiv!
Wichtig ist mir erstmal nur: Wir müssen das akzeptieren. So wie der Mensch für gewöhnlich zwei Augen, Ohren, Arme, Hände, Füße, Beine und so weiter hat; so hat er auch die Erbsünde an sich.
Und da können wir auch nichts dran ändern.
Aber, um den Trost etwas vorwegzunehmen: wir können es auch nicht mehr schlimmer machen.
Lesung: Röm 3, 21-28
- Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten.
- Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied:
- Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen,
- und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
- Den hat Gott für den Glauben hingestellt zur Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden
- in der Zeit der Geduld Gottes, um nun, in dieser Zeit, seine Gerechtigkeit zu erweisen, auf dass er allein gerecht sei und gerecht mache den, der da ist aus dem Glauben an Jesus.
- Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens.
- So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.
III. Sola Fide
Also, es muss etwas dagegen unternommen werden. Nur was? Gute Werke? Spenden? Mitarbeit in der Gemeinde?
Zur Zeit Luthers war die Sache recht einfach und eine Hilfe war recht beliebt: Ablassbriefe kaufen.
Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele in den Himmel springt!
Wer nur genug bezahlt, genug betet und genug Gutes tut, meistens für die Kirche, meistens in Form von Geld, der bekommt den Ablass für sich selbst, für seine Verwandten und Verstorbenen oder Kinder; auf Zeit, auf Tage berechnet, oder ewig. Im Prinzip aber nur unter der Bedingung, die Gebühr zu zahlen.
Das war es, wogegen sich Luther in seinen 95 Thesen gewendet hat. Denn, so sagt er, wir sind zugleich Sünder wie Gerechte. Aber wir sind nicht alle Heilige und Heuchler, da sieht er einen Unterschied.
Laut ihm gibt es zwei Kategorien von Menschen:
Einerseits gibt es die Heuchler, die in ihren Augen selbst gerecht sind, die ihre eingebildete Erlösung vor sich her tragen wie ein Schild, die sich einbilden, durch und durch frei von Sünde zu sein. Die Heuchler tun viele Dinge, um sich zu rechtfertigen, sammeln quasi „Punkte“, die sie dann am Ende ihres Lebens in Erlösung eintauschen zu können glauben.
Andererseits gibt es die Heiligen, also diejenigen, die wissen, dass sie in Sünde leben. Diejenigen, die um Erbarmen bitten. Diejenigen, die sich dem Urteil Gottes unterwerfen und Reue zeigen und glauben, dass er der HERR ist. Er urteilt, wer gerecht ist, er heiligt allein. Nichts, was Menschen tun könnten, würde ihn umstimmen oder beeinflussen.
Gott ist für uns unverfügbar. Er ist kein Automat, wir können ihn nicht beeinflussen.
Das ist der Irrtum der Heuchler und Pharisäer. Sie meinen, sie könnten ihre Erlösung erkaufen, irgendwie bewirken, irgendwie erzwingen oder herbeizaubern.
Das Gegenteil ist der Fall, schreibt Paulus:
- Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied:
- Sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie vor Gott haben sollen,
- und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist.
Was also macht einen Menschen gerecht?
Man kann nichts tun, außer sich im Glauben Gott zu ergeben und uns seinem Urteil auszuliefern.
Ich weiß ich weiß, das klingt erstmal bedrohlich, aber es fehlt ja noch die Gnade.
IV. Solus Christus, der wahre Leib, Einheit mit ihm und er mit uns
Sola fide. Allein durch den Glauben.
Welcher Glaube ist denn gemeint?
Ein bisschen habe ich schon angedeutet, worum es geht: Der Glaube an Chemtrails, Anunaki, Reptiloiden, Buddha, Naturgötter, Geister, Elfen und Kobolde ist damit nicht gemeint.
Landläufig meint man mit „glauben“ eher das „nicht-wissen“. So wird in Aussagen bei Gericht „geglaubt“, man habe etwas bestimmtes gesehen oder gehört. Oder man „glaubt“, dass er oder sie da und dort sei. „Glauben“ meint hier also „vermuten“, „annehmen“ oder eben auch „nicht-wissen.“ Das ist der „Glaube, dass.“
Das griechische Wort für „ich glaube“, πιστεύω, meint mehr als das, was wir also unter „glauben“ verstehen:
- vertrauen, vertrauen auf
- vertrauen in etwas/jemanden setzen
- sich auf jemanden/etwas verlassen
- an jemanden glauben
Das große Glaubensbekenntnis, das wir vorhin gebetet haben, beginnt mit Πιστεύομεν εἰς ἕνα Θεόν; „wir glauben an den einen Gott.“
Das is der „Glaube an.“ Das „Vertrauen auf“, das „Vertrauen, dass.“
Glauben ist Vertrauen.
Glauben ist, seine Sünde anzuerkennen und zu bekennen, sich dem Urteil Gottes auszuliefern und darauf zu hoffen, darauf zu vertrauen, sich darauf zu verlassen, dass man durch Christus und durch die Gnade Gottes trotzdem erlöst wird.
Also, es geht nicht um irgendwelche Phantastereien, es geht um den Glauben an der Auferstandenen Christus.
Und das müssen wir wirklich glauben.
Wir müssen glauben, dass Christus gelebt hat.
Dass er der Sohn Gottes ist.
Dass er gestorben ist.
Dass er auferstanden ist.
Dass er in den Himmel aufgefahren ist.
Dass er noch immer lebt und regiert von Ewigkeit zu Ewigkeit.
Mit dem Vater und dem Heiligen Geist, durch den dieses Universum erschaffen ist.
Wir müssen darauf Vertrauen, dass dies so ist.
Dass Gott auf die Erde kam,
als Kind in Windeln gewickelt,
sich selbst hingegeben hat in das menschliche Elend,
gelitten hat,
ermordet wurde,
gestorben ist.
Dass er uns voran ging.
Dass wir nur nachfolgen müssen.
Im Vertrauen auf ihn.
Im Glauben an ihn.
Hin zur Erlösung,
zur Rechtfertigung,
zur Seligkeit.
V. Sola Gratia, Abschluss der Predigt
Es geht darum, dass Gott in die Welt gekommen ist,
die Sünde überwunden hat,
die Grenze übertreten, die er selbst gezogen hat,
indem er Mensch geworden ist.
Und er tut dies immer wieder neu,
wenn er sich selbst im Abendmahl schenkt,
wenn er selbst anwesend ist,
und wenn der Ordinierte Christus nur seine Stimme leiht,
wenn Christus selbst spricht: „Das ist mein Leib.“, „Das ist mein Blut.“
Dann wird Christus in Brot und Wein leibhaftig gegenwärtig,
weil er der wahre Christus ist,
der wahre Leib, das wahre Blut.
Es ist nicht nur der Glaube an Christus, sondern letztlich allein die Gnade Gottes, die gerecht macht. Wir sind Sünder, aber wir sind auch gerecht. Wir können nichts gegen die Sünde tun, jedoch müssen wir nichts dagegen tun. Für die Erlösung können wir ja auch nichts tun.
Es ist allein die Gnade durch den Glauben an Christus, die gerecht macht.
Gott und Welt sind getrennt. Doch Gott überwindet diesen Spalt, diesen Sund, durch seinen Sohn.
Gott ist Mensch geworden, hat das menschliche Leid miterlebt, ist selbst gestorben und ist auferstanden.
Christus hat uns den Weg ans Kreuz gezeigt und darüber hinaus.
So wie er getauft wurde, gestorben ist und ewig leben wird, so werden auch wir, sterben und ewig leben.
Aber nicht, weil wir etwas Bestimmtes getan oder nicht getan haben, weil wir jeden Sonntag in den Gottesdienst gekommen sind, weil wir brav gebetet haben, weil wir brav das Kirchgeld bezahlt haben oder die Kirchensteuer.
Nein.
Wir werden erlöst, weil Gott uns liebt. Weil Gott einen guten Plan hatte und weil er gnädig ist.
Bis ans Kreuz.
Bis in den Tod.
Und darüber hinaus.
Was können und müssen wir dafür tun?
Eigentlich gar nichts.
Außer uns unsere Sünde eingestehen,
glauben
und vertrauen.
Amen.