zum Israelsonntag 2019

"Du hast mir nichts zu sagen!" – das habe ich als großer Bruder sehr oft gehört. Meine Eltern haben, als ich klein war, beide arbeiten müssen und so musste ich oft auf meinen drei Jahre jüngeren Bruder aufpassen. Und da kam es zu diversen Aufmüpfigkeiten – kommt es heute noch, wenn wir uns sehen.

"Du hast mir nichts zu sagen!" – das habe ich mir aber selbst auch oft gedacht, später, als ich älter war, als meine Eltern schwierig wurden, ich meinen eigenen Kopf entwickelte.

"Du hast mir nichts zu sagen!" – da steckt Angst dahinter, da steckt Trotz dahinter. Und wann immer Angst oder Trotz auf den Plan treten, sind die Kinder nicht weit. Und wo Kinder sind, da sind auch Eltern, das aber nur mal nebenbei, wer das im Einzelnen ist, das überlasse ich Ihnen!

Die Vorgesetzte schafft einem Arbeit an und man hat überhaupt keine Lust, das Arbeitsklima ist vielleicht nicht das allerbeste, man hat eventuell innerlich gar schon gekündigt, und denkt bei sich: "Du hast mir nichts zu sagen!"

Meine Französisch-Lehrerin in der 10. Klasse, sie war mittleren Alters, fast ein bisschen steif, schnurgeradlinig, exakt, penibel und wusste, was sie wollte und was nicht. Und die hat am allerersten Schultag ihre Regeln, sagen wir mal, aufgestellt:

  1. Wer etwas will, der meldet sich,
  2. kein Dazwischengeplapper,
  3. Hausaufgaben werden natürlich gemacht,
  4. immer eine andere macht die Hausaufgaben auf einer Folie und die wird dann gemeinsam korrigiert,
  5. jede Stunde wird einer abgefragt,
  6. alle der Reihe nach.

"Puuuuuuuh, " dachte ich mir damals, das kann ja was werden, und war damit nicht allein. Es war klar, es würde keine Diskussion geben, die Regeln waren fix, sie waren Gesetz.

"Du hast mir nichts zu sagen!" – und ja, das stimmt auch irgendwie. Die Regeln unseres Zusammenlebens sind eben genau das: Regeln, von lateinisch regula, Maßstab, Richtschnur; Regeln sind diskutierbar.

Gesetze auf der anderen Seite sind nicht diskutierbar. Wer mit 3 Promille auf dem Elektroroller durch Nürnberg fährt – neulich erst geschehen –, der ist seinen Führerschein los und hat ein Strafverfahren am Hals. Wer mit 80 durch Reichenschwand brettert, ebenso.

Regeln aber werden verhandelt. Sind leicht zu ändern, wenn einer der Beteiligten das wünscht. In einer Commune oder in einer Familie vielleicht vereinbart man solche Regeln. Man stellt irgendwann fest: "aha, es wäre schoooon besser, wenn irgendjemand irgendwann mal irgendwie aufräumen und irgendwo putzen würde." Und dann trifft man sich am Küchentisch und verhandelt bitter einen Putzplan, niemand will es machen, jeder muss, man macht Zugeständnisse und fertig ist der Plan; vorerst. Denn irgendwann, vielleicht, trifft man sich erneut am Küchentisch und spricht darüber: "naja, also damit bin ich jetzt irgendwie nicht ganz so einverstanden, das gefällt mir so nicht," und die Regel kann auch wieder geändert werden. Relativ einfach. Und zwar nur von denen, die sich daran halten wollen.

Gesetze wiederum werde normalerweise von der Obrigkeit erlassen, von jemandem, der Macht über uns hat, der bestimmen kann, der seine Gesetze auch durchsetzen, ihre Einhaltung notfalls erzwingen kann. Gesetze sind deshalb auch nicht ganz so einfach zu ändern, da gibt es keinen Verhandlungsspielraum. Und die, welche die Gesetze umsetzen, haben keinen Entscheidungsspielraum. Punkt.

Regeln sind verhandelbar, nicht in Stein gemeißelt.
Gesetze jedoch, die sind fest und müssen hingenommen werden.

Gottes Gebote, Gottes Gesetze, die Torah, was auf Hebräisch "Gesetz" heißt, waren ursprünglich in Stein gemeißelt, die Tafeln des Gesetzes, die Haluchot, die zehn Gebote. Haluchot staamt übrigens von Halachah, was wiederum mit der Wurzel H-L-KH zusammenhängt, die einfach "gehen" oder "wandeln" bedeutet. Das wird heute noch wichtig werden: H-L-KH bedeutet "gehen" oder "wandeln".

"Du hast mir nichts zu sagen!" – den Satz kennt Gott nur zur genüge. Wenn wir ihn selbst nicht aussprechen, dann brauchen wir nur in die Bibel zu schauen: 40 Jahre musste das Volk Israel durch die Wüste irren, weil es immer wieder gegen den Willen Gottes aufbegehert hat. Und Mose starb ab Vorabend der Landnahme, als Strafe für die Verfehlungen seines Volkes.

Denn Gott hat uns etwas zu sagen, er hat das Recht über uns zu bestimmen. Er erlässt das Gesetz, denn er ist der Schöpfer, der Allmächtige, der Anfang und das Ende des Universums, der Ewige, der Einzige, der Herr über die sichtbare und unsichtbare Welt. Der einzige Souverän in diesem Universum. Und er definiert den Rahmen, in dem wir "H-L-KH", also gehen und wandeln können, durch seine Haluchot, seine Gesetze, gesammelt in der Halachah.

Doch was sind Gottes Gebote genau? Welches ist das Wichtigste, das Höchste? Es sind insgesamt 613, davon 365 Verbote und 248 Gebote.

Genau das fragt ein Schriftgelehrter Jesus, der am Gründonnerstag, also kurz vor seinem Tod, im Tempel predigt; nachzulesen im Evangelium nach Markus im zwölften Kapitel:

Lesung: Mk 12, 28-34: Die Frage nach dem höchsten Gebot

28 Und es trat zu ihm einer der Schriftgelehrten, der ihnen zugehört hatte, wie sie miteinander stritten. Als er sah, dass er ihnen gut geantwortet hatte, fragte er ihn: Welches ist das höchste Gebot von allen?
29 Jesus antwortete: Das höchste Gebot ist das: »Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr allein, 30 und du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft« (5.Mose 6,4-5). 31 Das andre ist dies: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3.Mose 19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als diese.
32 Und der Schriftgelehrte sprach zu ihm: Ja, Meister, du hast recht geredet! Er ist einer, und ist kein anderer außer ihm; 33 und ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und mit aller Kraft, und seinen Nächsten lieben wie sich selbst, das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer.
34 Da Jesus sah, dass er verständig antwortete, sprach er zu ihm: Du bist nicht fern vom Reich Gottes. Und niemand wagte mehr, ihn zu fragen.

II. "Welches ist das höchste Gebot von allen?" (V. 28)

Wir Lutheraner sind traditionell in der Versuchung, die Sache mit den Gesetzen recht leicht abzutun, ganz im Gegensatz zu den Reformierten Christen: "Jesus Christus ist für uns gestorben, hat das Gesetz erfüllt, unsere Schuld getilgt." Und ich bin ehrlich: ich habe das lange auch so gesehen.

Wie bereits angedeutet, stellt sich für uns aber heute die Frage, stellt sich für alle Christen die Frage, welche Gesetze denn überhaupt noch gelten? Wie können wir Gottes Willen ergründen, auslegen, ihm nahekommen. Denn immerhin: ER ist der Souverän, ER bestimmt die Gesetze und ER fällt das Urteil, wenn wir sie nicht befolgen.

Die junge Christenheit hatte damit sehr zu kämpfen: Müssen sich die Judenchristen noch an das Gesetz halten? Wie ist es mit den Heidenchristen? Also denen, die nicht von Geburt an Juden waren, sondern von einer heidnischen Religion zum Christentum konvertiert sind.

Das war alles sehr uneindeutig und nicht so recht klar. Welche Speisegebote gelten noch? Müssen Christen koscher essen? Dürfen Sie Schweinefleisch essen oder Meeresfrüchte?

Hier hat sich Paulus ausführlich dahingehend geäußert, dass sich die Christen in Kolossia "nun von niemandem ein schlechtes Gewissen machen" lassen sollen "wegen Speise und Trank," dass "das Reich Gottes […] nicht Essen und Trinken [ist], [sondern] Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist."

So ähnlich hat der Schriftgelehrte, der in der Erzählung für das Volk Israel stehen dürfte, wohl auch gedacht, kannte er doch die Aussagen der Torah:

  1. "Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer." Oder auf Hebräisch: שְׁמַע יִשְׂרָאֵל יְהוָה אֱלֹהֵינוּ יְהוָה אֶחָד (schəma jisrael: adonai elohenu adonai echad)
  2. "Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."
  3. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

III. "Es ist kein anderes Gebot größer als diese." (Vv. 29.30.31)

Diese Aussagen des Gesetzes kannte auch Jesus. Und er wusste, dass sie eingebettet sind in die Gesamtheit der Torah, des göttlichen Gesetzes.

Was dort so aber nicht zu finden ist, das ist sein Zusatz: "Es ist kein anderes Gebot größer als diese." Es war zwar im Judentum bereits bekannt und üblich, alle Gesetze auf die Gottes- und Nächstenliege zu konzentrieren. Jesus aber hat erstmals diese beiden Gebote auf die gleiche Stufe gestellt.

Der gemeinsame Nenner der beiden Gebote ist die Liebe. Und in diesen beiden Geboten konzentriert sich das Gesetz Gottes, diese beiden Gebote sind die Grenzen für den Weg, Sie erinnern sich, H-L-KH, mit Gott. Es ist also ein Weg. Ein Weg Gottes mit uns Menschen.

Die Gebote Gottes halten ist ein Weg:

EG 295,1: Wohl denen, die da wandeln
vor Gott in Heiligkeit,
nach seinem Worte handeln
und leben allezeit;
die recht von Herzen suchen
Gott und seine Zeugniss‘ halten,
sind stets bei ihm in Gnad.

Dieser Heilige Weg hat begonnen mit Abraham. Gott ruft Abraham aus seinem Volk heraus und gibt ihm die Verheißung, ihm ein neues Land zu geben und ihn zum Stammvater eines Volkes zu machen. Durch dieses Volk, durch einen seiner Nachkommen, sollen einmal alle Völker gesegnet werden (1. Mose 13, 15.16; 22, 17.18). Abraham glaubt, vertraut und gehorcht dem sich ihm offenbarenden Gott und zieht mit den Seinen ins verheißene Land Kanaan. Dort versuchte Gott den Abraham, in dem er von ihm das Opfer seines einzigen Sohnes Isaak verlangte. Abraham wollte dem Verlangen Gottes nachkommen, aber Gott sandte als Opferersatz einen Widder. Wegen seiner Gottergebenheit und seines Gottvertrauens wird Abraham der „Vater des Glaubens“ genannt. Gegenüber seinem Sohn Isaak und dessen Sohn Jakob, dem Gott später den Namen Israel gibt, wiederholt Gott seine Verheißungen. (Nach: Biblisch Lutherisch, Artikel "Wer gehört zum Volk Gottes?")

Gottes Gebote halten, das ist ein Weg. Und diesen Weg zu gehen, heißt Gott zu lieben und seinen Nächsten zu lieben. Der einzige Weg, H-L-KH, Gottes Gebote zu halten, ist also die Liebe, der gemeinsame Nenner der beiden Gebote.

IV. "Das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer." (Vv. 32.33), bleibende Erwählung Israels

Am heutigen Sonntag, Sie haben es vielleicht bereits gemerkt, wird traditionell besonders an das Volk Israel gedacht, deshalb nennt man ihn auch "Israelsonntag." Kerngedanke ist die bleibende Erwählung Israels, das auch nach Christus noch Volk Gottes ist und bleibt.

Durch Jesus und seinen Kreuzestod wurde das israelische Gesetz nicht abgeschafft, das Judentum nicht aufgehoben; vielmehr ging Jesus – H-L-KH – den Weg des Gesetzes bis ans Kreuz, nahm die gesetzliche Strafe an unserer Stelle auf sich und starb an unserer Stelle den ewigen Tod.

Das Christentum ist also nicht eine Version 2.0 des Judentums sondern vielmehr ein weiterer Zweig an einem Baum, dessen Stamm der Bund mit Abraham ist.

Wenn also der Schriftgelehrte sagt: "Das ist mehr als alle Brandopfer und Schlachtopfer." Dann meint er damit nicht eine Abschaffung des jüdischen Kultes, sondern eine Übersteigung: Die Befolgung der beiden Liebesgebote erfüllt das Gesetz, ebenso wie es Opfer tun, aber die Befolgung übersteigt das Gesetz.

Und so muss man auch die lutherische Sicht auf Sünde, Gesetz, Schuld und Erlösung verstehen: Das Gesetz zeigt die Schuld und macht der Sünde bewusst. Das Evangelium macht frei von dem gerechten Urteil.

Der Weg der Halachah, die Befolgung des Gesetzes, führt zur Erlösung.

Ich stelle mir als Christ die jüdischen Gebote wie die Pfosten links und rechts einer Straße vor. Jeder einzelne Pfosten steht für ein Ge- oder Verbot. Gesetze, die Gott aufgestellt hat, um uns zu schützen, vor einander, und die Beziehung zu ihm zu regeln.

Doch dahinter sind ja auch die Leitplanken, die wirklich vor dem Abgrund retten. Nur auf die Pfosten zu achten ist eine Sache, aber die Leitplanken, die einen abfangen, wenn man die Pfosten einmal übersehen hat, das ist eine andere Sache.

Die Pfosten sind die Gesetze. Die Leitplanken sind der gemeinsame Nenner aller Gesetze der Halachah, so wie es Jesus sagt: Die Liebe!

Die Liebe zu Gott und die liebe zu meinem Nächsten, das ist es, worauf es ankommt.

V. "Du bist nicht fern vom Reich Gottes." (V. 34), bleibende Erwählung Israels, Schluss, Kanzelsegen

Die jüdischen, halachischen Gesetze sind nicht aufgehoben. Sie sind nur genau ein Weg mit Gott. Die Kernaussage des Gesetzes ist nämlich nicht, welches Fleisch ich essen darf, sondern:

  1. "Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR ist einer." Oder auf Hebräisch: שְׁמַע יִשְׂרָאֵל יְהוָה אֱלֹהֵינוּ יְהוָה אֶחָד (schəma jisrael: adonai elohenu adonai echad)
  2. "Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft."
  3. "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."

Es ist ein Weg. Gott hat ihn begonnen, mit Israel, mit genauen ausdifferenzierten Gesetzen, Jesus hat das alles auf den Punkt gebracht, es geht um die Liebe. Es geht immer um die Liebe.

Das heißt zwar nicht, dass das Gesetz überflüssig ist; man darf kein Jota vom Gesetz wegnehmen, hat Jesus gesagt! Das Gesetz hält uns die Schuld vor Augen! Aber das Evangelium, die Taufe auf den dreieinigen Gott, das Heilige Abendmahl, Gemeinschaft mit ihm haben, auf der Halacha mit ihm halach, das rettet.

Das begreiflich zu machen, das ist es, worum es Jesus ging. Paulus schreibt dazu: "Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig!", 2 Kor 3,6

Nicht blindes Befolgen althergebrachter Rituale, den Sinn erkennen, das ist es, was Jesus will. Deshalb sagt er ja auch: "Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat.", Mk 2, 27.

Es geht immer um die Liebe.

EG 295,1: Wohl denen, die da wandeln
vor Gott in Heiligkeit,
nach seinem Worte handeln
und leben allezeit;
die recht von Herzen suchen
Gott und seine Zeugniss‘ halten,
sind stets bei ihm in Gnad.

Wer das wirklich begriffen hat, verinnerlicht hat, der ist nicht fern vom Reich Gottes.

Amen.

Alexander
Dozent in der Erwachsenenbildung ~ Referent ~ Theologe

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