Es geschah im Jahr 1966, also vor knapp fünfzig Jahren: Ein junger Pfarrer aus einer deutschen evangelisch-lutherischen Landeskirche wurde in eine lutherische Kirche in Tansania berufen. Dort war er verantwortlich für die vielen, oft ganz kleinen christlichen Gemeinden in den Küstendörfern in der Nähe der Hauptstadt Daressalaam. Die Einwohner dieser Dörfer waren meist zu mehr als 90 Prozent Muslime. In einem Dorf sollte eine neue Moschee gebaut werden. Zur Grundsteinlegung ihrer Moschee luden die Muslime auch die kleine christliche Gemeinde und deren Pfarrer aus Deutschland ein. Wegen der in Afrika üblichen guten Nachbarschaft nahmen die christliche Gemeinde und ihr Pfarrer diese Einladung der Muslime an. Schwieriger wurde es für den Pfarrer aus Deutschland, als er am Beginn des Gottesdienstes zur Grundsteinlegung der Moschee von den muslimischen Geistlichen eingeladen wurde, mit ihnen auf den Matten Platz zu nehmen und mit für den Bau der Moschee zu beten.
Durfte er das überhaupt?
War das mit dem vereinbar, was er über den Umgang mit nichtchristlichen Religionen gelernt hatte? Interreligiöse Gespräche fanden — wenn überhaupt! — auf akademischer Ebene statt und an interreligiöse Gebete war noch nicht zu denken, war er doch eher in Afrika, um Muslime eher zum Christentum zu bekehren, als mit ihnen für den Bau ihrer Moschee zu beten.
Nun, er tat das naheliegendste: Er zog seine Schuhe aus, setzte sich zusammen mit den Imamen auf die für die Geistlichen reservierten Matten und betete mit ihnen für den Bau ihres Gotteshauses und für das friedliche Miteinander von Muslimen und Christen im Dorf und in der ganzen Welt.
II.
Der Autor des Epheserbriefes hatte es mit einer Situation zu tun, die mit der heutigen kaum zu vergleichen ist. Es gab Christen, die vorher gläubige Juden waren, die sogenannten Judenchristen, und solche Christen die vorher nicht gläubige Juden waren, also Heiden, die sogenannten Heidenchristen.
Diese beiden Gruppen lebten nebeneinander; und für den Schreiber des Epheserbriefes war klar, wer wer ist und wer in welche Gruppe gehört.
Heute aber haben wir eine ganz andere Situation. Die Frage, wer wie zum Christentum gefunden hat spielt kaum noch eine Rolle, uns plagen andere Fragen und Unterschiede.
Ist das Christentum die einzig wahre Religion? Gibt es noch mehr Wahrheit, auch woanders? Sind die Muslime nicht auch gläubig? Werden sie alle verdammt, weil sie Jesus nicht als Ihren Heiland anerkennen?
Von anderer Seite kann man ebenso argumentieren: Ist der Islam die einzig wahre Religion? Gibt es noch mehr Wahrheit, auch woanders? Sind die Christen nicht auch gläubig? Werden sie alle verdammt, weil sie in der Dreifaltigkeit dem Vielgötterglauben anhängen und Mohammed nicht als ihren Propheten anerkennen?
Für die Weißen sind die Schwarzen die Heiden, für die Schwarzen die Weißen, für die Christen die Muslime, für die MUslime die Christen.
Jeder hat für sich seine Wahrheit gefunden, aber gibt es überhaupt textit{die} eine Wahrheit, über der keine Wahrheit mehr ist?
Ist die Wahrheit ausschließlich hier oder dort zu finden?
III.
Wie gehen wir damit um, dass auch andere Menschen geliebte Kinder Gottes sind?
Sind sie?
Er lehrt einen der wichtigsten Sätze des Evangeliums aus Johannes 13: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Dieses neue Gebot ist die Grundlage unseres Glaubens. Alle Einwände werden damit beantwortet.
Ungläubige, Heiden, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Flüchtlinge, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Schwul, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Behindert, alt, krank und schwach, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Sterbend, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Verbrecherisch, kriminell, gefährlich, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Verachtet, ausgestoßen, er spricht: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Ohne selbst zu vergessen, dass für mich das Christentum die einzige Wahrheit ist, traue ich mich zu sagen, dass am Ende für Gott die Liebe zählt und es dann auch egal ist, welche Religion man für sich als wahr gehalten hat.
Auf jede Frage antwortet er: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
IV.
Ich bin kein Freund des theologischen Nutella-Prinzips: Nur da, wo Nutella draufsteht, ist auch Nutella drin. Oder anders gesprochen: Nur wo Jesus draufsteht, ist auch Jesus drin.
Ich will mir nicht anmaßen, zu diskriminieren. Das Verb „diskriminieren“ kommt aus dem Lateinischen und heißt so viel wie „unterscheiden“. Ich will mir nicht anmaßen, zu unterscheiden.
Denn Gottes Liebe passt nicht in ein Nutella-Glas, noch hört sie da auf, wo unsere kleine Schublade endet. Sie macht da weiter, wo wir zu schwach sind, zu klein, zu verblendet und verbohrt um wirklich zu gehorchen: „Liebt einander, wie ich euch geliebt habe.“
Die Liebe ist es, die Liebe ist, woran man uns erkennt, die Liebe ist das, was uns Menschen vereint und was die „Atemluft“ der Religionen ist.
V.
Der jüdische Theologe Jakob Petuchowski hat zu zeigen versucht, wie Gott sich nicht nur in seiner Religion, also im Judentum, sondern wie sich Gott auch in den anderen Religionen den Menschen zu erkennen gibt. Er hat darüber nachgedacht, wie die Angehörigen der verschiedenen Religionen gemeinsam Gott für seine Liebe und Zuwendung danken können, und er hat dafür das schöne Bild von einem Symphonieorchester der Weltreligionen gefunden, das Gott gemeinsam ein dankbares Halleluja musiziert.
Er schrieb:
Gott hat uns nicht dazu angehalten, irgendein Instrument des ihm ein ‚Halleluja‘ spielenden Symphonieorchesters der Weltreligionen auszuschalten oder zwei verschiedene Instrumente identische Töne hervorbringen zu lassen. Dennoch aber wäre es wünschenswert, dass sich die Instrumentalisten bewusst werden, dass sie, trotz aller Verschiedenheit der Töne, immerhin im selben Orchester die gleiche Symphonie spielen.
Für mich ist es eine schöne Vision, dass einmal die Angehörigen der verschiedenen Religionen in einem großen Weltorchester ein Lob- und Danklied zur Ehre Gottes singen. Und würde man dann einen Text suchen, so könnten sie sich dabei ohne theologische Schwierigkeiten auf einen einigen, der nach dem Lukasevangelium schon beim ersten Weihnachtsfest auf dem Hirtenfeld von Bethlehem von den Engeln gesungen wurde und der jedes Jahr neu beim Weihnachtsfest im Dezember, beim östlichen Weihnachtsfest am 6. Januar, erklingt:
Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens.
Amen.
Text: Eph 3, 2-7